Der Monat April im Jahre 2009 war einer der wärmsten seiner Art. Ob damit der Sommer des Jahres schon vorgezogen
wurde, musste sich noch herausstellen.
Ich genoss die Sonne am Meer auf einem unbestimmten Deichabschnitt Ostfrieslands, sah weit auf das Meer hinaus und lauschte
dem Geschrei der Möwen, die sich wichtige Informationen mitzuteilen versuchten. Dann und wann ließ ich meine
Blicke entlang des Deichverlaufes ziehen und beobachtete bald eine Herde Schafe, die genüsslich dabei war, die
Gräser des Deiches kurz zu halten und damit auch sorgen, dass er mit einer festen Grasode bedeckt war. So wurde Fressen
zu einem sehr wichtigen Instrument. Die Schafe waren emsig damit beschäftigt, ihren Dienst im Küstenschutz
zu leisten, und machten dabei kaum Anstalten, sich weiter zu bewegen. Dort wo sie standen, war genug Arbeitsmaterial.
Nur ein Schaf bewegte sich entgegen dem allgemeinen Trend, mal nach links, mal nach rechts und dann wieder gerade aus.
Staunend nahm ich auch zur Kenntnis, dass es begann, rückwärts zu gehen und nach links einzuschwenken. Als dieser
Vorgang abgeschlossen war, stoppte es kurz und setzte seine Bewegung vorwärts fort, bevor es kurz danach wieder nach
links abbog. Diese Manöver erinnerten mich an ein Auto, dessen Fahrer versuchte, den richtigen Weg zu finden. Mir kam
ein Verdacht, der sich alsbald bestätigte. Plötzlich nämlich schlug das Schaf den Weg in meine Richtung ein
und als es nahe genug heran gekommen war, erkannte ich in ihm Edouard Mouton.
Er war so vertieft in ein Gerät, das er bei sich trug, dass ich befürchtete, er würde mich nicht erkennen
und an mir vorbei ziehen. Also begrüßte ich ihn schnell, als er auf Hörweite heran gekommen war.
Bonjour, Monsieur Mouton , warf ich ihm entgegen.
Ah, guten Tag , antwortete er ebenso freundlich, wenngleich ich das Gefühl hatte, dass ich ihn aus wichtigen
Überlegungen heraus gerissen hatte. Sie scheinen beschäftigt zu sein , führte ich den Dialog fort.
Nicht wirklich , antwortete er, ich versuche mich nur mit diesem Gerät zurechtzufinden. Auch bei mir hält
dann und wann etwas Technik Einzug.
Verwundert schaute ich ihn an. Technik? , fragte ich ungläubig. Ja , entgegnete er, da ich viel
unterwegs bin, habe ich mir, einer Empfehlung folgend, ein Navigationssystem zugelegt. Wenn ich vorher bei dem Wort
Technik noch neugierig skeptisch war, so viel ich jetzt aus allen Wolken.
Ein Navigationssystem?
Ja, warum denn nicht? Als ich mich auf den Weg zu meinen friesischen Verwandten machte, hatte ich enorme Schwierigkeiten
den richtigen Weg zu finden. Sicherlich liegt es auch daran, dass sie sich Tag für Tag entweder in östlicher oder
westlicher Richtung bewegen. Obwohl ich allerdings wusste, wo sie sich aufhalten, habe ich enorme Zeit damit verschwendet,
sie zu finden. Mein Cousin Jan Skep empfahl mir daraufhin so ein Gerät. Er besitzt selber eins, obwohl ich mich frage
warum. Wozu benötigt man ein Navigationssystem, wenn man sich eigentlich nur in zwei Richtungen bewegt?
Ich gestehe, diese Ausführung rief in mir eine enorme Ungläubigkeit hervor. Aber sie kam von Edouard Mouton, war
also genauso plausible wie unverständlich. Allerdings war das nichts außergewöhnliches in den Begegnungen
mit Edouard. Oder anders ausgedrückt: Es war immer so.
Kannst du mir nicht einige Dinge erklären? Ich willigte ein und wir begannen über Navigationssysteme zu
fachsimpeln. Wenn ich ein Ziel eingebe, dann erfragt das System zunächst ein Land, danach eine Stadt und die
Straße und zuletzt die Hausnummer , erklärte Edouard mir und setzte fort, Das allerdings ist bei meinen
Verwandten, ob nun die friesischen oder die in der Bretagne immer schwierig. Sie bewegen sich kaum in Städten und haben
selten eine Adresse, an der sie sich gewöhnlich aufhalten. Zwar weiß ich in der Regel immer, wo sie sich gerade
aufhalten, aber in den seltensten Fällen kann ich eine Straße und schon gar nicht eine Hausnummer
eingeben.
Das war verständlich und es erinnerte mich daran, wie es mir ergeht, wenn ich einen Stellplatz für mein Wohnmobil
suche und nur Koordinaten des Global Positioning Systems, kurz GPS habe. Wenn das Navigationssystem keine Eingabe solcher
Koordinaten vorgesehen hat, wird es schwierig. Also begann ich Edouard etwas von geographischen Koordinaten zu
erzählen. Und Edouard hörte aufmerksam zu.
Das Problem besteht zunächst darin, die Oberfläche einer Kugel auf eine Ebene zu bringen. Dazu benötigt
man eine Projektion ... , berichtete ich. Edouard hörte zu. Ist dieses geschehen , setzte ich fort, muss
man ein Koordinatennetz auf diese Abbildung bringen, mit einer y - und einer x - Achse. Die y - Achse bezeichnet nun
nördlich des Äquators den Nord-Wert, auf der Südhalbkugel den Südwert. Um nun die Mitte des
Koordinatennetzes zu bekommen, an der also alle Werte auf Null gesetzt sind, hat man neben dem natürlichen
Äquator, der ja in Ost-West-Richtung die Erde an ihrer breitesten Stelle umspannt, eine weitere Linie gebraucht, eben
eine, die die Pole miteinander verbindet. Nach langen Hin und Her legte man diese Linie so fest, dass sie durch die
Sternwarte von Greenwich verläuft. Dort wo sie nun den Äquator überquert, liegt Null, gültig für
alle Himmelsrichtungen. Null y und Null x. Edouard hörte zu.
Mit so einem Gitternetz, kann man nun jeden Punkt der Erde festlegen und definieren, ohne eine Stadt, eine Straße
und eine Hausnummer zu kennen. Edouard schaute mich an, überlegte kurz und sagte: Das ist ja wie im Leben. Alle
Einflüsse, die auf uns treffen sind Projektionen. Man muss nur noch lernen, die Karte zu lesen. Denn Navigationssysteme
für das Leben und den Umgang mit anderen Leben gibt es nicht.
Erstaunt und sprachlos folgte ich seiner Schussfolgerung, mit der ich einfach nicht gerechnet hatte. Nun sag mir doch
noch , unterbrach er das Schweigen, warum gibt es im System manchmal Anweisungen ausschließlich für
uns?
Wie meinen Sie das, Monsieur ? , versuchte ich meine Fassung wieder zu erlangen. Manchmal , so erklärte er
mir, sagt das Navigationssystem In 200 Metern Schaf links abbiegen...!
Inhaltsverzeichnis
|