Das Perpetuum Mobile und die Inquisition


So warm sich der April 2009 verabschiedet hatte, so kühl und unbeständig zeigte sich der Mai 2009. Nur an vereinzelten Tagen erlaubte die Sonne, sofern man den Wind ignorierte, stundenweise den Aufenthalt auf der Gartenliege. Ich nutzte diese Zeiten und begab mich mit Liege, Kissen und Buch auf eine Wiese. Ich genoss die Ruhe des Sonntagnachmittages, las und lauschte dem Gezwitscher unbestimmter Vögel, welches eine enorm beruhigende Wirkung auf mich hatte.

Das Buch das ich las, ließ mich in frühere Zeiten verschwinden, erklärte mir geschichtliche Hintergründe. In diesem Fall ging es um Rechtssysteme oder Unrechtssysteme im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Während ich las, ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich Parallelen zum heutigen menschlichen Denken zog und verglich. Sind wir heute so anders? Ist uns nicht auch heute, wenn wir uns im Recht sehen, jedes Mittel recht? In diesem Zustand des Nachdenkens verweilte ich ca. 45 min, bis meine Augen keinen Sinn mehr darin sahen, in die Leere zu blicken und sich demonstrativ schlossen.

Als sich die Sonne hinter einer Wolke versteckte und damit die Temperatur sinken ließ, begann ich auf unangenehme Weise den Wind zu spüren und zwang meine Augen, sich wieder zu öffnen. Sie gehorchten mir, ich war wach und bemerkte, dass ich Besuch bekommen hatte. Ich wollte dich nicht wecken, sagte Edouard, den ich neben mir bemerkte. Noch etwas benommen vom Schlaf und dem letzten Gedanken, den ich hatte, bevor ich über meinem Buch eingeschlafen war, begrüßte ich ihn: Nicht der Rede wert, ich war nur über meinem Buch eingenickt.

Sein Blick fiel auf den Titel des Buches und er bemerkte: Ein interessantes Thema! Nicht nur das, es zeigt auch sehr viele Parallelen über das Denken als solches aus. Recht hat auch immer etwas mit bewerten zu tun, erst recht in der Rechtsprechung.
Genau, stimmte Edouard mir zu, die Bewertung der Dinge schließt die Rechtsprechung bzw. das Rechtsempfinden mit ein. Nennen wir das Bewerten der Dinge doch einfach lernen. Dem musste ich zustimmen - lernen als bewerten der Dinge - diese Aussage gefiel mir. Ich erzählte Edouard eine Geschichte.

Mit 13 oder 14 Jahren hatte ich eine Idee. Ich baute aus einem kleinem Spielzeugboot den Elektromotor aus und befestigte ihn so an einem Reifen, dass dieser vom Motor angetrieben wurde. Die benötigte Energie lieferte eine 9V - Blockbatterie. Das war zwar noch keine große Leistung, lieferte mir aber eine weitere, nahezu revolutionäre Idee. Wenn, so meine weitere Überlegung, dieser Reifen nun einen Dynamo antreiben würde, so könnte ich durch meine kleine Maschine Energie erzeugen. Die so gewonnene Energie würde dann den kleinen Elektromotor versorgen, der ja den Reifen antreibt und so wiederum mit dem Dynamo die Energie produziert, die er selber benötigt.

Lass mich raten, unterbrach Edouard mich, der Versuch scheiterte. Nicht nur das, antwortete ich, deprimierend erfuhr ich, dass schon vor mir viele Menschen bei ähnlichen Versuchen gescheitert sind. Nicht nur die Erkenntnis, dass es nicht funktionierte, ärgerte mich, sondern auch die Erfahrung, dass ich nicht der erste war. Dabei hatte ich tagelang mit der Gewissheit, dass es funktioniert, an diesem Versuchsaufbau gebastelt. Du wolltest also ein Perpetuum Mobile bauen?, stellte mein Gesprächspartner rhetorisch fest.
Ja, den Namen hat mir mein Vater auch zu allem Überfluss genannt. Bedrückend, oder? Da hat man einen genialen Einfall, setzt ihn um und muss dann feststellen, dass es 1. doch nicht funktioniert, 2. keine geniale Idee war und zu guter Letzt sogar einen Namen hat ...
Und so, unterbrach mich Monsieur Mouton, sind wir beim Thema bewerten. Ganz vergebens war dein Versuch ja nicht. Du hast mit der Bewertung deines Fehlversuches gelernt, dass es nicht funktioniert. Doch was viel wichtiger ist, du hast dich nicht entmutigen lassen.
Wie man es nimmt. Natürlich war ich entmutigt, sonst hätte ich ja weiter versucht, diese Maschine zu bauen.
Das stimmt wohl. Allerdings nenne ich die Erkenntnis, dass man auf die Unmöglichkeit trifft, nicht Entmutigung. Entmutigung würde ich es nennen, wenn du nie mehr in deinem Leben Ideen verfolgt hättest, weil es ja schon andere vor dir getan haben könnten.
Nein, ganz im Gegenteil, ich ertappe mich immer wieder dabei, Dinge zu versuchen, die im Allgemeinen aussichtslos erscheinen.
Und hattest du Erfolg?
Manchmal ja, manchmal nein.
Sehr richtig, und manchmal liegt der Erfolg in der Erkenntnis, dass man es versucht hat, sich nicht von der Idee getrennt hat, bevor die Machbarkeit ausprobiert wurde.
Und trotzdem bleiben manchmal Überlegungen, ob es nicht doch gegangen wäre, wenn man das ein oder andere anders gemacht hätte.
Ganz klar, belehrte mich mein Freund, man muss nicht alles bis zum Schluss ausreizen, um zu der Erkenntnis der Unmöglichkeit zu gelangen, aber Fehler dürfen erkannt werden und vor allem auch korrigiert werden. Und ganz nebenbei ist es doch auch schön, die Fantasie einer Idee verfolgt zu haben.

Ich muss ihn ziemlich fragend angeschaut haben, denn er setzte gleich mit einer Erklärung fort: Da gab es einen Maler namens Escher. Der malte u.a. auch eine Art Perpetuum Mobile. Er entwarf einen Wasserlauf, der sich vom Betrachter wegbewegt, dann die Richtung ändert und letztendlich als Wasserfall zum Betrachter zurückkehrt. Auf seinem irrealen Weg treibt dieser Wasserlauf auch noch ein Wasserrad an. Sieht logisch aus, funktioniert allerdings in der Realität nicht. Im Grunde genommen hielt Escher nur die Fantasie der Idee fest. Ich verstand, was er meinte und fügte hinzu: Ähnlich ergeht es auch dem sogenannten Tribar oder Penrose-Dreieck.
Stimmt, erwiderte Edouard, aber was in der Realität nicht funktioniert, eigentlich nur illusorisch auf dem Papier existiert, wird leider viel zu oft Gegenstand von Überlegungen. Frei nach der Antwort des Mathematikers Roger Penrose, die besagt, dass jeder einzige Teil einer Figur akzeptabel als Darstellung eines Gegenstandes, der normal im Raum steht, ist, werden Indizien gesammelt und, gemäß des zweiten Teils der Antwort: Das Akzeptieren des gesamten Objekts führt jedoch, als folge unrichtiger Verbindungen zwischen den Teilen zu dem trügerischen Effekt einer unmöglichen Struktur., zu einem Beweis zusammen gebaut.

Ich verstehe, führte ich die Ausführungen Edouards weiter fort, die Indizien sind plausibel, wie auch jeder einzelne Teil im Bild ohne Widerspruch möglich ist. Zwei Indizien zu verknüpfen ist evtl. ebenfalls ohne Fehler möglich, scheitert allerdings schon mit der Verknüpfung eines weiteren Indizes. Trügerisch in diesem Fall ist, dass sich die erste Tatsache mit der zweiten problemlos verbinden lässt, die zweite auch ebenfalls mit der dritten, wenn sie von der ersten gelöst wurde. Diese fällt leider erst auf, wenn sich die Gesamtheit des Objekts, wie auch des Evidents, als Widerspruch entlarvt.

Ganz genau, bestätigte Edouard Mouton meine Ausführungen, viele Institutionen in der Geschichte und auch heute verfahren so, wie z.B. Geheimdienste in totalitären Systemen oder die Inquisition der katholischen Kirche im Spätmittelalter. Wobei man der Inquisition schon unterstellen muss, dass ihre Beweisführung mehr als abenteuerlich war. Damit schlug Edouard geschickt einen Bogen zur Eingangsthematik. Und dabei war die Inquisition auch eine Art Perpetuum Mobile, dass sich selber mit Energie versorgte., setze ich an. Ja, denn durch die Methoden der Inquisition kam es zu immer mehr Verurteilungen. Und mehr Verurteilungen suggerierte, dass eine akute Gefahr durch Ketzerei bestand. Das bestätigte wiederum die Inquisition, die ihre Ermittlungen noch mehr ausdehnte. Und wo die Inquisition anklopfte, da war der Platz auf dem Scheiterhaufen schon reserviert. Ein Teufelskreis oder eben ein Perpetuum Mobile.

Wie gut, dass wir nicht zur Zeit der Inquisition leben, man hätte uns wahrscheinlich auf den Scheiterhaufen gebracht, resümierte ich, doch Edouard entmutigte mich gleich wieder: Die Inquisition als Institution mag in ihrer mittelalterlichen Form der Vergangenheit angehören, doch die persönliche Inquisition einiger Zeitgenossen ist sehr lebendig und lebt ungezwungen weiter. Wenn es nicht so schmerzlich wäre, könnte man sogar darüber lachen. Es gibt Zeitgenossen, die sagen genau wie du, dass sie zur Zeit der Inquisition wahrscheinlich als Ketzer oder Hexen verbrannt worden wären. Die Wahrheit sieht anders aus - sie hätten fleißig mitgefoltert und verbrannt.


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