Eiréne


Wonach schaust du?, fragte mich Edouard um ein wenig die eingeschlafene Kommunikation zu beleben. Ach, nach gar nichts, log ich zurück, ertappt bei einfach strukturierten Gedankengängen.
Wir waren schon einige Zeit in der Stadt unterwegs, bis wir ein kleines Café am Rande des menschlichen Treibens fanden. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Menschen in keiner Weise von uns Schafen, pflegte Edouard anzumerken, wenn wir auf größere Menschenmengen trafen. So auch an diesem sonnigen Frühlingsmorgen im Mai, der einlud, draußen am Rande des Gewühls vor einer riesigen Schale Milchkaffee zu sitzen.

Manchmal, hob Edouard wieder an, möchte ich durch deine Augen sehen.
Was erhoffen Sie zu sehen?, fragte ich, nun ganz aus meinen Gedanken gerissen.
Das ist nicht wichtig. Es geht darum zu sehen, wie dein Blick wandert und wo er hängen bleibt.
Aha, reagierte ich etwas überfordert. Aber Edouard schaffte es wieder. Obwohl ich einfach nur hier sitzen, meinen Milchkaffee genießen und mir die Leute auf der Straße ansehen wollte, wandte ich mich Edouard Mouton zu, um mit ihm ein Gespräch zu führen über die Dinge, die ich sah. Aber eigentlich wollte er ja wissen, wie ich sie sah.

Ok, nahm ich die Herausforderung an, stellen Sie sich vor, Sie würden durch meine Augen sehen, Sie wären quasi wie ein Kontrollmonitor an mir angeschlossen.
Gute Idee, schmunzelte das Schaf zufrieden. Ich wusste nicht, ob ihm die Idee gefiel oder ob er nur den Triumph genoss, mich aus meinen Gedanken gerissen zu haben. Da ich allerdings nicht wirklich angeschlossen bin, musst du mir schon sagen, was du siehst!

Ich sehe... Ach das funktioniert doch nicht.
Warum nicht?
Na, wenn ich Ihnen erzähle, was ich sehe, dann filtere ich ja schon für Sie.
Das ist wohl war, aber es hat einen zusätzlichen Effekt.
Und der wäre?, fragte ich skeptisch.
Ich erfahre, welche Prioritäten du setzt, erklärte er.
Prioritäten im Sehen? Ich sehe doch immer, selbst wenn ich die Augenlider herunter klappe, sehe ich. Ich kann mein Sehen doch nur bedingt beeinflussen.
Eben, und in dem, was du mir erzählst, erfahre ich, was dir wichtiger ist und was nicht.

Ich gab jeden Widerstand auf. Er hatte gewonnen. Ich sehe eine Frau in einem langen bunten Rock, die einen Kinderwagen festhält ...
Ich wusste es!, unterbrach Monsieur Mouton mich, du schaust nach Frauen.
Ich schaue nach Frauen?, entgegnete ich. Ich schau doch nur herum. Und wenn ich etwas schönes sehe, dann schaue ich genauer.
Nach Frauen!, provozierte er.
Nicht nur nach Frauen! Ich hatte das Gefühl, dass er mich in eine Ecke treiben wollte und ertappte mich dabei, dass ich mich wehrte.
Wonach sonst?, fragte er.
Einfach nach schönem. Es hätte nun auch eine Statue sein können, oder ein schönes Haus. Einfach nach etwas, dass in mir das Gefühl der Ästhetik weckt.
Auch Frauen?
Ja, warum denn nicht?, versuchte ich einen Schlusspunkt zu setzen. Doch Edouard ließ nicht nach.
Du setzt also diese Frau mit einem Haus auf die gleiche Stufe, oder mit einer Statue? Er hatte mich wieder.
Oder mit einem Blick auf das weite Meer ..., ergänzte ich polemisch.
Ich glaube Dir nicht!, grinste er mich an. Er provozierte auf seine ganz unnachahmliche Art.

Was macht sie gerade?, bohrte er weiter. Er tat es mit einer gewissen Disziplin, mit der er suggerierte, dass es ihn überhaupt nicht interessierte. Dabei richtete er es so ein, dass mir die Gelegenheit genommen wurde zu sagen, dass er doch selber schauen sollte.
Sie schaut interessiert nach etwas, folgte ich seiner Führung.
Nach was denn?
Das kann ich doch von hier aus nicht sehen.
Und was gibt es dort, wonach sie schauen könnte?
Auch das kann ich nicht sehen. Ich antwortet schon etwas genervt, und er genoss es.
Du würdest es gerne wissen!
Es geht mich doch nichts an!, versuchte ich zu verhindern, dass er mich in eine seiner Fallen lockte. Ich wollte nicht nachgeben, wusste allerdings auch, dass ich im Grunde genommen keine Chance hatte.

Stell Dir vor, Du wärst jetzt ganz in ihrer Nähe, am gleichen Stand. Dann wüsstest du, was es dort zu sehen gibt, und könntest kombinieren.
Was könnte ich kombinieren?, ruderte ich.
Was ihr Interesse weckt.
Und dann? Ich stellte mich unwissend.
Könntest Du ein Gespräch anfangen.
Ein Gespräch? Ich wurde durchschaubar.
Ja, ein Gespräch. Das ist es doch, was du im Grunde genommen möchtest.

Ich dachte nach. Natürlich hatte er recht, das wusste ich nur zu deutlich. Über was sollte ich mit ihr sprechen?
Das ist, belehrte mich Monsieur Mouton, nicht das Entscheidende. Nicht das Thema ist wichtig, sondern das Wie?
Da gebe ich ihnen recht, gab ich zu, auch sichtlich beruhigt, dass ich durch seine Fragen nicht aus dem ruhigen Fahrwasser gezogen wurde. Und trotzdem provozierte ich nun auch meinerseits: Das Thema ist insofern auch wichtig, weil es dann einen Grund gibt, miteinander zu sprechen. Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, begriff ich, welche Steilvorlage ich dem Schaf damit geliefert hatte.

Der Grund, warum du mit ihr sprechen möchtest, ist doch ein ganz anderer. Das Thema ist dabei nebensächlich.
Dieses Schaf hatte so recht, dachte ich und gestand zumindest mir die Kapitulation ein. Aber ihm gegenüber wollte ich mir die Blöße nicht geben.
Ich kann doch nicht auf sie zugehen und ihr, bildlich gesprochen, um die Ohren hauen, dass mich ihre Erscheinung fasziniert. Womöglich sollte ich sie auch noch mit irgendwelchen Hoffnungen bombardieren, die mir in der Eile einfallen.
Edouard lachte: Sie würde wohl fluchtartig das Weite suchen.
Das wollte ich damit sagen., triumphierte ich leicht. Also brauche ich ein Thema um ins Gespräch zu kommen!

Also einen Schutzschild?
Einen Schutzschild?, schlug ich die Frage zurück, wie den Ball beim Tennis.
Ja klar, du sprichst sie an, erzählst etwas über die Dinge, die auf dem Tisch ausgestellt sind, und möchtest ihr doch ganz andere Dinge mitteilen.
Ich stellte mich doof: Was zum Beispiel?
Du möchtest herausfinden, ob sie Dinge gut findet, die dir auch gefallen. Du möchtest sie einladen in deine Welt zu schauen und hoffst, dass auch du die Möglichkeit bekommst, in ihres zu sehen.
Ist das nicht ein bisschen zu hoch gegriffen?, versuchte ich zurück zu rudern.
Nein, allzu menschlich, und das sage ich als Schaf.
Sie geht, sagte ich kurz und auch enttäuscht.
Dann handele!

Der Mensch, der meine Aufmerksamkeit hatte, ohne es zu wissen, umfasste den Griff des Kinderwagens und setzte sich zielstrebig in Bewegung. Der Blick, von dem ich hoffte, dass er von mir Notiz nahm, war geradeaus gerichtet. Mit jedem Schritt flatterte der lange bunte Rock, und verlieh der beobachteten Szene eine ruhige Bewegung, die sonst nur die Wellenbewegungen auf dem Meer bei mir auslösen.
Ich wünschte mir einen Blick, ein Lächeln, ein Wort und stellte die Frage, ob das in diesem Augenblick nicht ein wenig viel wäre, ganz weit nach hinten. Wie in einem Kitsch-Roman, dessen Bilder ganz bewusst die unterste Stufe des menschlichen Empfindens anspricht, transportierte ich das Wesen, das ich sah, an einen Strand im Sonnenuntergang. Mehr habe ich mich nicht getraut.

Hey, träumst du?, holte Edouard mich zurück.
Äh, ja, wie, was ..., stammelte ich. Sie ist wieder stehen geblieben.
Wo ist sie jetzt?, fragte Monsieur Mouton.
Direkt hinter ihnen, etwa 10 Meter entfernt.
Das ist nicht viel, und wenn du nicht handelst, ist eines ganz sicher, sie wird nie mehr näher kommen, wie jetzt.
Und warum sollte ich das tun?
Weil du sie magst!?
Wieso sollte ich sie mögen? Ich kenne sie doch gar nicht.
Du magst sie also nicht, weil du sie nicht kennst?
Weder mag ich sie, noch mag ich sie nicht, weil mir die nötigen Informationen fehlen., argumentierte ich.

Gibt es etwas, das dich veranlasst, sie nicht zu mögen?
Nein, alles, was ich ich bisher wahrgenommen habe ... Mir wurde plötzlich klar, worauf er hinaus wollte. Ich schaute an ihm vorbei und beobachtete das Geschöpf, dass mir wirklich wichtiger war, als ein schönes Haus oder eine Statue. Sie stand vor einem Schaufenster und betrachtete die Auslage. Ich wünschte, sie würde mich im Spiegelbild der Scheibe bemerken, sich umdrehen und mich anlächeln. Welch ein absurdes Gedankenspiel.

Ok, gab ich zu, ich mag sie, auch wenn sich das natürlich zu diesem Zeitpunkt auch in Luft auflösen könnte.
Ganz klar, unterstrich Edouard.
Ich ertappte mich dabei, wie ich eine Bitte an Monsieur Mouton formulierte. Hey, ich frag doch ein Schaf nicht, was ich tun soll , bremste ich mich selber aus.

Was denkst du?, fragte mich das Schaf, Und antworte ehrlich!
Ich frage mich, ob wir etwas gemeinsam haben.
Natürlich haben wir das, sonst würden wir hier nicht zusammen sitzen., erwiderte Mouton.
Doch nicht wir beide! Sie und ich! Manchmal nervte er und er wusste es.
Ja, das musst du wohl herausfinden. Sie wird nicht ungefragt zu uns herüberkommen und uns die Gelegenheit bieten. Wie recht er damit hatte.

Was soll sie denn mit dir gemeinsam haben?, fragte Edouard weiter.
Was weiß ich denn?, entgegnete ich. Kaum hatte ich einen Gedanken in meinem Kopf formuliert, unterbrach er mich mit einer Frage.
Ob sie meine Geschichten mag?, fragte ich.
Oder deine Fotografien?, ergänzte Mouton.
Oder meine Leidenschaft für die Weite des Meeres..., führte ich weiter fort.
Deine Reisen mit Le Cormoran durch Europa, schloss er an.

Während wir Frage an Frage reihten, bemerkte ich, dass sich die Frau von uns weg bewegte und blickte ihr wehmütig hinterher. Plötzlich rutschte etwas aus dem Netz des Kinderwagens und fiel, von ihr unbemerkt, auf die Straße. Edouard, der dies ebenfalls nicht bemerkt hatte, schaute mich fragend an, als ich hektisch aufsprang.

Wo willst du hin?
Herausfinden, ob ich mit dieser Frau etwas gemeinsam habe und wissen, ob und wie ich ihr Interesse wecken kann!


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