Oma Jana


Es hing und drehte sich. Starr, weit entfernt jeglicher Flexibilität, hatte es eine Form angenommen, die ihren Reiz hatte und genau betrachtet ein eingefrorenes Kunstwerk war. Doch es war brüchig und bei näherer Betrachtung kam unschwer die Erkenntnis: Es war tot.

Vor langer Zeit, im Frühjahr, entfaltete es sich, brach langsam heraus und bahnte sich seinen Weg aus einem unscheinbarem Gebilde, welches den vergangenen Winter bewegungslos ausgesessen hatte. Dieser Ausbruch im Frühjahr signalisierte den Geschöpfen, die allesamt darauf gewartet hatten, das es nun soweit ist. Das Frühjahr brachte Wärme und einen eindeutigen Vorwegweiser der in Richtung Sommer wies. Nun war auch diese Jahreszeit abgeschlossen und der Tod kam gnadenlos mit dem Herbst. Als nun der Wind eine letzte Drehung verursachte, fiel das leblose Gebilde hernieder und lies sich noch ein wenig über das Pflaster treiben, bis es unter der Sohle meines der Jahreszeit angemessenen Schuhwerkes endgültig zerbröselte. Das Blatt eines Baumes des Jahres 2009 war Geschichte und hatte in seiner letzten passiven Handlung seines Daseins der Knospe des Blattes 2010 Platz gemacht.

Edouard und ich kamen von einem längeren Spaziergang zurück, der uns einerseits durch einen urigen Novemberwald führte und andererseits durch die Welt skandinavischer Philosophen. Edouard war zu Gast bei Verwandten, die zur Familie der sogenannten Skudden gehörten. Ich begleitete ihn noch zur Herde, bevor ich dann selber die Heimreise antreten wollte. Abseits am Wege stand ein altes Schaf. Ich grüßte im Vorbeigehen und vernahm nur ein leises abweisenden Knurren. Habe ich etwas falsches gesagt?, fragte ich meinen Begleiter. Nein, lachte er leise, aber das ist Oma Jana, bei der kommt alles falsch an. Oh, setze ich lachend fort, ein alter Grisgram also... So kann man es sagen, allerdings mehr eine tragische Figur.

Ich wurde neugierig, doch Edouard ließ sich lange bitten, mir die Geschichte von Oma Jana, wie sie überall genannt wurde, zu erzählen. Dabei war der Name Oma Jana nicht gerade postiv besetzt. Wann immer es unter den Skudden Streit gab, war eine Äußerung wie: Du bist wie Oma Jana! nicht selten.

Oma Jana hatte viel in ihrem Leben viel erreicht., begann Edouard zu erzählen. Wer einmal in die Situation, ja, wer einmal das Glück hatte, tief in ihre Seele zu schauen, der wusste sofort, welch wunderbarer Mensch sie war, oder besser ist, und konnte sie nie vergessen.

Ich verstehe nicht, warum sie dann so abgesondert wirkt, warum sie im Abseits steht. Hat sie niemanden um sich herum?, unterbrach ich ihn. Die sind alle gegangen im Laufe ihres Lebens. Gute Schafe waren darunter, gute Freunde, die einiges hin nahmen und ihr vieles verzeihten. Aber letztendlich eben nicht alles. Die Partner kamen und gingen, die Freunde ebenso und letztendlich verließen Jana sogar die eigenen Kinder.

Dann denke ich, ihre Partner, ihre Freunde waren nicht die Richtigen, hatte vielleicht zu wenig Einfühlungsvermögen. Was ich allerdings nicht verstehe, warum sich letztendlich ihre Kinder abgewandt haben. Oh, sie war von wunderbaren Leuten umgeben, hatte gute Partner an ihrer Seite und auch fantastische Freunde. Und auch ihre Kinder sind wunderbare Wesen geworden. Manch eine Mutter wäre stolz darauf, wenn sie solchen Nachwuchs hätte. Ich kenne sie gut, sie sind sehr hilfsbereit und auch zuvorkommend. Nur eine Person im Leben der Jana Girusch ist schlecht mit ihr umgegangen.

Und der hat sie so verbittert werden lassen?, stellte ich die Zwischenfrage. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine Person im Leben jemanden so verbittert werden lässt. Doch Edouard, der gedanklich eine Pause zu machen schien, schaute ins Leere und ging nicht darauf ein. Es war selten, dass ich meinen sonst fröhlichen und liebenswerten Freund so ernst und beinahe traurig erlebte. Doch schon bald beendete er sein Schweigen und erzählte weiter. Ich hörte zu und zwang mich, ihn nicht mehr zu unterbrechen.

Edouard erzählte aus dem Leben von Oma Jana, die viele Träume begraben hatte, Träume, die nicht ihre eigenen waren. Er erzählte von einer Person, die immer darauf achtete, was andere vermeintlich von ihr erwarteten. Fand sie im Leben etwas für sich, dass sie begann zu lieben und zu mögen, ließ sie es fallen, sobald nur jemand etwas negatives äußerte, auch wenn es noch so unwesentlich war. Letztendlich wurde sie zu einem Menschen, der alle Bereich in ihrem Leben positiv bereichern wollte und als es ihr nicht gelang, diese Bereiche zu trennen. Im Laufe ihres Leben verlor sie sich selber, und ich verstand, warum sie sich abgesondert von den Anderen aufhielt, ihre Wolle stumpf und filzig erschien und ihrer ganze Lebensfreude verschwunden war. Denn die Person, die sie so verletzt hatte, so verbittert hat werden lassen, war sie selber. Und einen Kampf mit sich selber kann man nur verlieren, egal wer zu gewinnen scheint.

Einmal, endete Edouard seine Ausführungen, sah sie ein Reh, das angefahren und verletzt auf der Straße lag. Immer wieder versuchte das Reh auf die Beine zu kommen um zu flüchten und jeder Versuch, der sicherlich sehr schmerzhaft war, verlief ergebnislos. 'Warum bleibt es nicht ruhig liegen und nimmt Hilfe an?', fragte Jana sich unter Tränen. Ihr Mitgefühl ließ sie die Schmerzen und die Angst des Rehs spüren. Mein Freund endete und ich glaubte Tränen in seinen Augen zu sehen.

Ja, Jana, ergänzte ich, manchmal kann man einfach nicht mehr weglaufen und muss vertrauen, so wie das Reh!


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